Eröffnungsrede zur Ausstellung "Christiane Middendorf" von Kunsthistorikerin Annette Quast in der Stadtsparkasse Hattingen, Geschäftsstelle Am Reschop 14.03.2004
Diese Ausstellung von neuen Arbeiten der Essener Künstlerin Christiane Middendorf dokumentiert das Ausdrucksspektrum einer Künstlerin, die in ihrer Malerei eine eigene, unverwechselbare Bildsprache entwickelt hat, eine Sprache, die sich auf Wesentliches, Ursprüngliches konzentriert, ohne sich jemals in Beliebigkeit zu verlieren.
Christiane Middendorf arbeitet mit Acryl auf Leinwand, und ihre gestisch-expressive, abstrakte
Bildsprache hat - kunsthistorisch betrachtet - zweifellos ihre Wurzeln in der gestischen Malerei des
amerikanischen Abstrakten Expressionismus einerseits und insbesondere im französisch-italienischen
Informel bzw. Tachismus. Beide dominierten in einer Vielfalt von Stilrichtungen die internationale
Kunstszene nach dem 2. Weltkrieg in den 50er und 60er Jahren.
Losgelöst vom Zwang zur gegenständlichen Darstellung, ging in Europa aus dem Expressionismus die von Kandinsky begründete informelle Richtung der abstrakten Malerei hervor, die sich in rhythmischen Farbkompositionen artikulierte. Feste Kompositionsregeln wurden abgelehnt, durch frei erfundene Zeichen oder durch die spontane Rhythmik von Farbflecken oder Linien versuchte man geistige Impulse unmittelbar auf der Leinwand auszudrücken. Bilder des Informel sind als spontane Gebärden zu verstehen, als Psychogramme innerer Vorstellungen.
Die Absage an eine gegenständliche Thematik, die Abkehr von einer rational kalkulierten Bildkomposition, die Abwehr gegen ein Diktat der Ordnung - das sind die Basiselemente, die Freiheiten, die aus der Entwicklung des Informel entstanden sind. Diese hat Christiane Middendorf nicht einfach adaptiert, sondern auf ihrem eigenen künstlerischen Weg umgedeutet und in ihre spezifische Bildsprache umgesetzt: dabei geht es ihr letztlich nicht um einen sich ungefiltert entäußernden, psychologisierenden Selbstausdruck, der lediglich aus den Schichten des eigenen Unbewussten auf der Leinwand auftaucht. Dies würde zur Beliebigkeit des Bildresultats, zu einer chaotisch anmutenden Ansammlung von Farb- und Formspuren führen.
Für die Künstlerin bedeutet diese Freiheit des Malens vielmehr Auseinandersetzung, Reflektion und Dialog zwischen der spontanen malerischen Geste einerseits und der rational durchdachten Bildkomposition andererseits: im Malprozess wird dieses spannungsvolle Verhältnis zwischen "Gefühl und Verstand" immer wieder kritisch und neu ausbalanciert.
Was heißt das ?
Wir begegnen in Christiane Middendorfs Bildern einer Malerei, die sehr stark farbgedanklich organisiert ist.
Ausgangspunkt ihres Arbeitens sind dabei Eindrücke, Gedanken, Bilder Phänomene, die sie in ihrer
natürlichen Umgebung aufnimmt und beobachtet. Daraus entstehen gewissermaßen Themenkomplexe, die sie
malerisch farbgedanklich transformiert.
Zum einen war es der Begriff des "Fließens" (Beispielsweise Wasserfall, Wasserstein, Riff, Lagune, Meeresgrund) mit dem sie sich intensiv auseinander setzte. Daraus resultierte eine weitere Fragestellung, mit der sie sich in den neuesten Arbeiten beschäftigt: es geht um Risse, Brüche, Aufbrüche, wie wir sie in der Natur finden (Felsspalten, Erdbewegungen, Lichtung Jahreszeiten), aber auch im übertragenen Sinn auf den Lebenslauf eines Menschen projiziert, der auch gekennzeichnet ist von immer wieder stattfindenden Brüchen, Trennungen und dem Aufbruch zu Neuem.
Es sind also sehr komplexe, auf verschiedenen Ebenen emotional und intellektuell ineinander
verschlungene Themen.
Die Titel sind dabei lediglich eine Andeutung, sind zu verstehen als eine von vielen anderen Möglichkeiten, einen Zugang zu dieser Bildwelt zu finden. Denn in der Loslösung vom mimetischen Abbilden erschafft die Künstlerin Wirklichkeit malerisch neu. Ihre Farbformen bilden Wesenheiten für sich, die völlig unabhängig vom Naturvorbild existieren und ihre eigene Wahrheit erzählen.
Christiane Middendorf zielt gerade nicht darauf ab, Formen anzuklären, um unseren Erwartungen an Wiedererkennbares zu entsprechen, sondern sie hält sie prozesshaft offen. Unseren Drang nach Fixierung von Erkennbarem müssen wir im Betrachten ihrer Bilder immer wieder loslassen und in Frage stellen.
Die Entstehung eines Bildes basiert auf einem dialogischen Arbeitsprozess,
, in dem sich sukzessiv durch Übereinanderlagerungen und das Verschmelzen von Farbschichten der Klang
des Bildes mit seinen sublimen Nuancen entwickelt. Hier sind es auch die Zufälle des Malens, die
beständig neue Konstellationen aufwerfend, von ihr bewusst und bildgestalterisch genutzt werden.
"Die Leinwand ist wie die Straße, auf der ich gehe", sagt die Künstlerin. Es entstehen Impressionen
eines durchlichteten Farbraumes, in dem sich das Ambivalente, Wandelbare und Labile der Farbe als eine
ihrer möglichen Eigenschaften offenbart. Das sensible Gleichgewicht der Bildelemente, das zum Teil aus
rationalem Kalkül resultiert - denn die Künstlerin hat oft die Bildidee im Kopf schon skizzenhaft
vorgedacht -, im malerischen Prozess aber auch viel mit intuitivem Gespür zu tun hat, setzt sich
zusammen aus farbigen Gewichten und Schwerpunkten, Entsprechungen und Widersprüchen, Harmonien und
Disharmonien, deren rhythmischer Zusammenhang durch das Vibrieren der Farbe geleitet wird.
Die Struktur des Bildes gleicht einer dynamischen, in Spannungsverhältnissen angelegten Schwingung, einer pulsierenden, atmenden Bewegung: durch die Überlagerung der Farben entsteht ein optisch reizvolles Spiel aus eng miteinander verwobenen, vor- und zurückweichenden Flächen, wodurch der Blick des Betrachters beständig in Bewegung gehalten wird und das Bild eine geheimnisvolle Tiefendimension erhält. Zarte, transparente Schleier vermischen sich mit kräftigen, farbintensiven Schichten, warme Töne mit kalten, Farben nehmen Gestalt an, breiten sich aus, ziehen sich zusammen, sinken in die Tiefe, steigen auf.
Sparsam und differenziert gesetzte Linien in Schwarz und Weiß, schaffen ordnende Strukturen und Akzente, geben dem Farborganismus Halt. Die Sprache der Farbe, vom Gegenstand emanzipiert, ist es aber, die sozusagen die Kommunikation zwischen Kopf und Bauch entfaltet. Jede Farbe besitzt einen inhaltlichen Ausdruck, womit wir eine Tastatur besitzen, die alle denkbaren Variationen zum Klang bringen kann. Van Gogh schrieb an seinen Bruder Theo: "In den Farben sind verborgene Dinge von Harmonie oder Kontrast, Dinge, die durch sich selbst wirken und die man durch kein anderes Medium ausdrücken kann."
Christiane Middendorf schwelgt in der Farbe, malt mit Freude und Leidenschaft: dominant und einnehmend tritt sie uns entgegen. Sie erblüht in duftigem oder sattem Grün und hält uns in Spannung, sie leuchtet strahlend Gelb wie die Sonne, bringt Lust auf Neues, erwärmt uns in Orange, versenkt uns mit Brauntönen in den erdigen Grund des Bodens, lässt uns an harten, schrundigen Felsen entlang gehen, sie verharrt in nachdenklichem Blau und entfaltet vor uns die Weite des Himmels oder die unergründliche Tiefe des Meeres, erwärmt uns in samtigem Rot, glüht hitzig auf wie Feuer, ereifert sich mit Macht und Dynamik und verschwimmt dort hinter einem dunstigen Schleier.
Deutlich sichtbare Pinselspuren, ihre Absätze, Wiederholungen und formakzentuierende Linienverläufe verdichten die Bildfläche zu einem auf mehreren Ebenen verwirkten lebendigen Organismus. Dabei scheint die Form in einem Status vor der eigentlichen Bestimmung gehalten zu werden, in einer Spannung der Unbestimmtheit: Form, bevor sie Gestalt wird. Hinzu kommt, dass die kontrastierenden Licht- und Farbwerte die Vorstellung von Übergangsphänomenen erzeugen, die sich als aufglühende und verlöschende Farbe, als schwindendes Licht und einbrechende Dunkelheit deuten lassen.
Über solche Bezüge, die entfernte Erinnerungen an Realität zulassen, hinausgehend, dringt Christiane Middendorf in abstrakte Bereiche vor, die etwas nicht Greifbares, nicht Fixierbares außerhalb der materiellen Welt vergegenwärtigen, das uns doch seltsam vertraut vorkommt. Erinnerungen an Gesehenes, Erlebtes, Verdrängtes taucht auf, manchmal auch an jene ungerufenen, schnell sich wandelnden Bilder von Glück und Angst, Sehnsucht oder Ende, die in den Minuten vor dem Schlaf unsere Sinne ergreifen, flüchtig meist und selten bleiben sie gegenwärtig.
Diese faszinierende Magie entfaltet sich aber vor allem im wechselnden Einfall des Lichts, das von den einzelnen Farbschichten und Partien mehrfach und auf den unterschiedlichen Tiefenebenen gebrochen wird. Im Durchschimmern der Farbgründe empfinden wir diaphane Tiefen. Sie beziehen den Betrachter ein, fordern ihn zur Bewegung heraus, animieren ihn, verschiedene Standpunkte einzunehmen oder seinen eigenen Standpunkt - auch im übertragenen Sinne - zu suchen.
Die Bilder treten dem Betrachter wie Individuen gegenüber, mit der Konsequenz, dass ein Verhältnis zu ihnen immer wieder und jeweils neu gefunden werden muss. Es gibt keine bestimmte, objektivierbare Lesart. Die Offenheit der Farbformerscheinungen ermöglicht es, immer wieder verschiedene Erfahrungs- und Bewusstseinsebenen zu aktivieren: der Betrachter soll sich Zeit nehmen und auf einen Dialog einlassen, der in seinem Willen liegt und von seinem individuellen Erfahrungshorizont geprägt ist.
Willi Baumeister hat in seiner programmatischen Schrift "Das Unbekannte in der Kunst" formuliert:
Vom Standpunkt des Malers aus ist die Malerei die Kunst des Sichtbarmachens von etwas, das durch ihn erst sichtbar wird vordem nicht vorhanden war, dem Unbekannten angehörte.
Auch Christiane Middendorf macht im schöpferischen Prozess des Malens Unsichtbares sichtbar und in dem von ihr gelenkten und kontrollierten Prozess dringen Erinnerungen an optische, seelische und denkerische Erlebnisse ein. Ein "Alphabet" der Kunst liefert sie uns nicht. Vielmehr fordern ihre Bilder die Aktivität und das Einlassen auf einen bewussten Sehprozess, der uns zum Bewusstsein bringen kann, dass Bilder eben nicht nur auf einer Leinwand zu finden sind, sondern in uns selbst. Insofern sind Christiane Middendorfs Bilder Mediatoren, die wir als Betrachter einsetzen können, um für uns selbst ein Bild zu finden.
Der Schriftsteller Gottfried Benn hat einmal gesagt:
Kunst ist nicht zu verstehen. Kunst hinterlässt Eindrücke und streut Keime aus.
In diesem Sinne wirken die Bilder Christiane Middendorfs im Betrachter weiter...
Annette Quast, Kunsthistorikerin M.A.
Kontakt: Tel. 02324/84021